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 von Jochen Esser, MdA - finanzpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin – 16. Wahlperiode, 23. November 2006 - Nachtragshaushalt 2007

Herr Präsident, meine Damen und Herren
Seit dem 19. Oktober, dem Tag des Urteils in Karlsruhe, ist das Haushaltsgesetz 2006/2007 verfassungswidrig, weil die darin erteilte Kreditermächtigung die Summe der Investitionen übersteigt, ohne dass sich das Land Berlin zumindest de jure in einer extremen Haushaltsnotlage befindet. Von einer ernsthaften Störung des gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichts kann angesichts der wieder in Gang gekommen Wirtschaftstätigkeit und dem damit verbundenen Steuersegen für den Staat ebenfalls keine Rede sein. Über diesen Befund sollten wir uns eigentlich alle einig sein.

Was ist folglich zu tun? Die Kreditermächtigung in § 3 Absatz 1 des Haushaltsgesetz ist auf das verfassungskonforme Maß abzusenken. Ganz einfach, oder? Ich wundere mich, dass es bisher schwierig ist, darüber Konsens herzustellen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Nur, die Absenkung der Kreditermächtigung reicht alleine nicht. Um die Einheitlichkeit und Vollständigkeit des Haushalts zu wahren, müssen auch die Einnahmen und Ausgaben des Zahlenwerks angepasst werden.

2007 stehen dem Land Berlin voraussichtlich Einnahmen von 1,4 Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist wahrlich kein Pappenstil. Frage: Was soll mit diesen 1,4 Milliarden Euro geschehen Wer entscheidet über deren Verwendung? Wer darf darüber entscheiden? Der Finanzsenator oder das Parlament?

Diese Frage hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1977 beschäftigt, und die Antwort des Gerichts war eindeutig und hat allen Eigenmächtigkeiten von Regierungen einen Riegel vorgeschoben.

"Sinn der Finanzverfassung ist es nicht, dem Bundesminister für Finanzen einen eigenen Spielraum für die Ausgabengestaltung zu eröffnen. Die Entscheidungsbefugnis über die durch Mehreinnahmen oder durch Minderausgaben angesammelten Finanzmittel liegt nicht beim Bundesminister der Finanzen sondern beim Haushaltsgesetzgeber.“

Ich denke, das ist eindeutig genug. Ich glaube, auch Herr Sarrazin bewältigt die Transferleistung mühelos, im Geiste das Wort Bundesminister durch das Wort Senator zu ersetzen.

Nun könnte jemand vielleicht noch einwenden, die Mehreinnahmen 2007 stünden gar nicht zur Disposition. Schließlich steht in der Koalitionsvereinbarung der denkwürdige Satz: „Alle Einnahmeverbesserungen sind der Rückführung der Nettokreditaufnahme zuzuführen.“ Wer’s glaubt wird selig!

Wir alle wissen, das Jahr 2007 beschert uns nicht nur einen Einnahmesegen sondern auch Mehrausgaben in relevanter Größenordnung.

Erstens: sind da mindestens 250 Millionen Euro Mehrausgaben für die Wohnkosten der Hartz IV Empfänger.

Zweitens: lösen sich die übrigen Mehrausgaben des Jahres 2006, die rund 150 Millionen Euro betragen, nächstes Jahr nicht vollständig in Luft auf. Manches davon wird uns dauerhaft begleiten.

Drittens: stehen den 80 Millionen Mehreinnahmen aus den europäischen Strukturfonds auch entsprechende Ausgaben gegenüber, wenn sie die EU-mittel nicht verfallen lassen wollen.

Viertens: stehen uns Nachzahlungen für die Straßenreinigung von 15 Millionen Euro ins Haus

Fünftens: fallen Mehrkosten für die Sanierung der VBL in Höhe von 70 Millionen an. Dadurch die Finanzierung des kostenfreien Kitajahrs auf tönernen Füßen, weil Sie auf ganz eigenartig Weise völlig unterschiedlicher Tatbestände in einem Haushaltstitel verknüpft haben.

Sechstens: haben Sie uns in der Koalitionsvereinbarung versprochen, mehr Geld in die Bildung zu investieren. Wir alle sind gespannt, was daraus wird.

 

Siebentens: haben sie weiterhin keine Vorsorge für die Sanierung von Oper, ICC, Kreisel oder maroden Schwimmbädern getroffen

Achtens: schwebt über Ihnen das Damoklesschwert einer Nachzahlung an die BWB in Höhe von über 200 Millionen Euro.

Neuntens: Dass sie das und noch viel mehr gegenfinanzieren ohne einen einzigen Cent der zusätzlichen Steuereinnahmen anzufassen, gehört ins Reich der Märchen.

Logisch, dass wir da auf das Urteil von 1977 zurückkommen und einen Nachtragshaushalt verlangen, weil nur dadurch - wie das Verfassungsgericht in dem erwähnten Urteil zutreffend schreibt, „gewährleistet ist, worauf es in der parlamentarischen Demokratie entscheidend ankommt, dass sowohl jede Fraktion – insbesondere die Opposition – als auch die einzelnen Abgeordneten ihre Vorstellung über die Verwendung der Mehreinnahmen darlegen und dadurch die Entscheidung über den Haushaltsplan beeinflussen können.“

Ich finde, das erklärt hinreichend, warum Sie hier einen Antrag aller Oppositionsfraktionen vorfinden, der an das Selbstverständnis aller Abgeordneten des Hauses appelliert, das von unseren demokratisch-revolutionären Vorfahren schwer erkämpfte Königsrecht des Parlaments auf Budgethoheit auf keinen Fall aus der Hand zu geben.

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