von Jochen Esser, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen am 16. Oktober 2008, 36. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses: Begründung und Abstimmung des Themas der Aktuellen Stunde in der Plenarsitzung

"Spitzbuben im Nadelstreifen"

Herr Präsident, meine Damen und Herren,
wir wissen im Augenblick noch nicht, ob auch Berlin sich mit Verpflichtungen von bis zu sieben Milliarden Euro an dem Rettungspaket der Bundesregierung beteiligen muss. Aber ganz unabhängig davon dürfte uns allen bewusst sein, dass die deutsche Politik in Bund und Ländern vor der folgenschwersten finanzielle Entscheidung ihrer Geschichte steht. Und ich nehme an, Sie alle spüren wie ich das bedrückende moralische Dilemma, das mit dieser Entscheidung verbunden ist.

Weil niemand sonst mehr handlungsfähig ist, ist es zur Aufgabe der Politik und des Staates geworden, einen Zusammenbruch des Kreditsystems zu verhindern und die damit verbundenen verheerenden Folgen für die produzierenden Unternehmen, ihre Beschäftigten und die gesamte Bevölkerung abzuwenden. Zögern und zuwarten darf man da nicht. Die falsche Politik der 1930er Jahre dürfte uns allen eine Warnung sein.

Soweit ist die staatliche Rettungsaktion tatsächlich ohne Alternative. Aber mit dem Finanzsystem rettet man unausweichlich – und das ist das moralische Dilemma - auch die Spitzbuben in Nadelstreifen, die den Schaden angerichtet haben.

Die Menschen fragen uns deshalb zu Recht: „Warum nehmt Ihr diejenigen, die das Desaster in erster Line verursacht haben, nicht stärker in die Mithaftung?“ Der Regierende Bürgermeister Wowereit antwortet darauf wie heute morgen zu lesen war, leichthin: „Hier werden keine Geschenke an die Banken verteilt.“ Wenn man das Rettungspaket der Bundesregierung genauer liest – was leider kaum einer tut - kommt man jedoch zu einem ganz anderen Schluss. Das Gesetz lässt es ausdrücklich zu, unnötige Geschenke zu verteilen.

Es handelt sich um ein finanzpolitisches Ermächtigungsgesetz, das der Bundesregierung drei Instrumente für mögliche Maßnahmen zur Verfügung stellt:

Erstens Eigenkapitalzuführung, zweitens Kreditgarantien, drittens Aufkauf fauler Kredite und Investments. Nur bei der „Rekapitalisierung“ genannten Verstaatlichungsvariante in § 6 wird von den Banken zwingend eine Gegenleistung verlangt. Eigenkapital gibt es nur gegen Übertragung von Geschäftsanteilen an den Staat. Aber weder für die Kreditgarantien nach § 7 und - schlimmer noch – selbst für den Aufkauf von Problemkrediten und - investments nach § 8 ist irgendeine Gegenleistung der Banken, ihrer Eigentümer und Manager zwingend vorgeschrieben. Es ist das Belieben der Bundesregierung gestellt, welche Mittel sie vorzugsweise ergreift und welche nicht. Und ob Gegenleistungen verlangt werden, ist zukünftigen Rechtsverordnungen der Regierung überlassen.

So groß ist das Vertrauen von uns Grünen in eine Regierung aus CDU und SPD nicht, dass wir ihr diesen Blankoscheck ausstellen wollen! Um unsere Unterstützung zu bekommen, muss das Paket eine klare politische Richtung kriegen. Wir unterstützen den Weg, den Banken gegen Abgabe von Geschäftsanteilen Kapital zuzuführen. Wir lehnen es aber ab, Kredite und Investments ohne jede Gegenleistung aufzukaufen oder zu garantieren. Aufgabe der Politik ist es definitiv nicht, alle Finanzmarktakteure und ihre Vermögen auf Kosten der Steuerzahler „rauszuhauen“. (Davon ist inzwischen selbst die USA abgekommen, und Großbritannien hat diesen Weg zu Recht nie beschritten.)

Die gigantische Hilfsaktion der Allgemeinheit ist nur gerechtfertigt, wenn sie zugleich eine allererste Antwort auf die tiefergehende Frage enthält: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? In einer Gesellschaft, in der nachhaltig gewirtschaftet wird – ökologisch, sozial, finanziell und ökonomisch – oder weiter in einer Welt, die von Kurzfristdenken, besinnungslosem Profitstreben und verantwortungslosem Schuldenmachen beherrscht wird und in der ein Bankenvorstand im Jahr 200 mal soviel verdient wie ein Lehrer? Ich bin mal gespannt, wie die Regierungserklärung des Regierenden Bürgermeisters heute Abend an dieser Stelle ausfallen wird und ob die Debatte auf der Höhe der Zeit und der aufgeworfenen Fragen geführt wird.

zurück