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von Jochen Esser, MdA - finanzpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin – 16. Wahlperiode, 24. Sitzung vom 14. Februar 2008, Aktuelle Stunde zur Zukunftsfähigkeit der BVG

Herr Präsident, meine Damen und Herren,
der Öffentliche Nahverkehr ist für uns Grüne ein besonderes Lieblingskind. Jeder weiß, dass wir ihm weit mehr Passagiere wünschen als er im Augenblick hat. Jeder weiß, dass uns deshalb das Angebot an Bus und Straßenbahnlinien nicht groß genug sein kann. Manchmal träumen wir davon, die U-Bahn und die S-Bahn führen im Zwei-Minuten-Takt, und der Bus oder die Straßenbahn kämen alle 5 Minuten um die Ecke. Und das Ganze am Liebsten fast rund um die Uhr und zum Nulltarif.

Das ist ein Traum, den nicht nur wir träumen, sondern Hunderttausende, die in dieser Stadt morgens um sechs oder nachts um halb eins im Regen an der Bushaltestelle stehen. Wir alle wissen natürlich, dass es ein Traum bleiben muss, weil ein derartiges Verkehrsangebot nicht finanzierbar ist, schon gar nicht im Pleiteland Berlin mit seinen 60 Milliarden Euro Schulden.

Sie werden aber verstehen, meine Damen und Herren von SPD und Linkspartei, dass wir – jenseits aller Träume – zumindest dafür kämpfen, dass das Angebot des Öffentlichen Nahverkehrs in Berlin erhalten bleibt und nicht derart abgebaut wird, wie wir es in den letzten Jahren erleben mussten. Und wir wollen, dass dieses Angebot bezahlbar bleibt und Schluss ist mit immer neuen Fahrpreiserhöhungen weit über der allgemeinen Teuerungsrate.


Seit SPD und Linke hier regieren, haben sie die Leistungen der Straßenbahn - gemessen an der Linienlänge - um 20 Prozent gekürzt, das Busangebot um 18 Prozent und die Leistung der U-Bahn um knapp 5 Prozent. Im gleichen Zeitraum haben Sie die Monatskarte für die treuen Kunden der BVG um 25 Prozent und das Sozialticket für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger um 63 Prozent verteuert.

Höhere Preise für weniger Leistung, das ist die Quintessenz Ihrer Politik. Das ist umweltfeindlich und unsozial. Ihre Verkehrspoltik kann dem Finanzsenator und seiner Hartz IV Diät durchaus das Wasser reichen!


Die Fahrgäste müssen dafür bluten, dass es Ihnen in sechs Jahren Regierungszeit nicht gelungen ist, die BVG zu dem leistungsfähigen Verkehrsunternehmen zu machen, das wir uns alle wünschen.

Die Patientin BVG ist seit Jahren krank, chronisch krank. Und noch immer ist nicht abzusehen, ob und wann sie gesund wird. 750 Millionen Euro Schulden hat die BVG aufgetürmt, obwohl sie mit Vermögensverkäufen wie der Privatisierung der BVG-Wohnungen dagegen angekämpft hat.

Und die Krise hält an. 2006 hatte die BVG einen operativen Verlust von 55 Millionen Euro zu beklagen und 2007 wird das Jahresergebnis wohl einen Verlust von rund 70 Millionen Euro ausweisen - trotz der Fahrpreiserhöhungen und trotz der Ausdünnung der Verkehrsleistung. Jeder weiß, so kann das nicht weitergehen.

Der BVG ist viel bittere Medizin verabreicht worden, aber geholfen hat das wenig. Nach wie vor sind in Berlin die Zuschüsse aus dem Landeshaushalt höher und die Verluste des Nahverkehrsunternehmens trotzdem größer als anderswo.


Es ist wie im wirklichen Leben. Wenn man nicht gesund wird, ist das Problem nicht nur der Patient sondern gleichermaßen der Arzt, der am Krankenbett herumdoktert. Der Arzt heißt in diesem Fall Klaus Wowereit, und – um es vorweg zu nehmen – er macht seine Arbeit schlecht.

Der Regierende Bürgermeister hat im Juni 2005 die Zukunft des Nahverkehrs und die Sanierung der BVG zur Chefsache gemacht. Nach einer langen Verhandlungsnacht erschien er am 16. Juni 2005 hier Plenum und gab eine Regierungserklärung ab, in der er sich zu der Behauptung aufschwang: „Ich bin sicher, dass dieser Abschluss ein Modell nicht nur für Berlin, sondern für die gesamte Republik ist.“ (Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle lang anhaltenden Beifall von SPD und PDS)

  • Das Modell sah folgendermaßen aus:
  • Die BVG bekommt das Monopol auf Verkehrsdienstleistungen bis 2020.
  • Die BVG verzichtet auf betriebsbedingte Kündigungen ebenfalls bis 2020.
  • Neu eingestellte Mitarbeiter der BVG werden nach den bundesweit üblichen Standards entlohnt.
  • Die vorhandenen Beschäftigten behalten einen Gehaltsvorsprung von nur noch 600 bis 700 Euro im Monat gegenüber dem Bundesstandard.

Und was hat dieses angebliche „Modell für die Republik“ bis heute unter dem Strich gebracht? Ich nehme an, dass der Rest der Republik kopfschüttelnd auf die aktuelle Berliner Situation schaut und auf den Modell-Behandlungspfad von Herrn Doktor Wowereit dankend verzichtet.

Dort geht man eigene und erfolgreichere Wege. Denn die Sanierung ist von Verkehrsunternehmen ist möglich, wenn es sich nicht gerade um Berlin und seine rot-rote Regierung handelt. Das haben insbesondere die Sozialdemokraten in Hamburg bewiesen. Die haben es geschafft, die Hamburger Hochbahn zu sanieren. Die zeigen Ihnen, wie ein gut geführtes öffentliches Verkehrsunternehmen aussieht, dass sich nicht schamhaft verstecken muss, sondern der Deutschen Bahn und anderen Unternehmen selbstbewusst Konkurrenz machen kann.

In Berlin ist der Verlustausgleich pro Fahrgast – wohlwollend gerechnet – 15 Cent höher als in Hamburg. Und diese 15 Cent haben es in sich. 15 Cent weniger Subvention pro Fahrgast an die BVG würden bedeuten, dass der Zuschuss aus dem Landeshaushalt 135 Millionen Euro geringer ausfallen könnte. Und anders als die BVG kommt die Hochbahn mit dem vergleichsweise weit geringeren Zuschuss auch hin und produziert keine rote Zahlen.

Herr Wowereit, wenn ich die Zeichen richtig deute, möchten sie gerne Chef aller Sozialdemokraten in Deutschland werden. Ich würde sagen, dann beweisen Sie erst mal, dass Sie die Chefsache Öffentlicher Nahverkehr zu dem gleichen guten Ende bringen können wie ihre Genossen in Hamburg. Diese Leistung wird nicht auf dem roten Teppich der Berlinale vollbracht. Sie ist aber von überragender ökologischer und sozialer Bedeutung für unsere Stadt!

Herr Wowereit, Sie haben sich am 8.Dezember 2005 während der Haushaltsberatungen hier im Plenum zu folgender Aussage verstiegen: „Da sind nicht Geschenke verteilt worden, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben in einem Solidarpakt bis 2019 auf jegliche Gehaltssteigerung verzichtet – auf 10 Prozent ihres Einkommens. Das ist der Mentalitätswechsel, den ich zu Recht eingefordert habe, und er hat auch gegriffen.“

Und nun? Wo ist denn der Verzicht auf Gehaltssteigerungen bis 2019 geblieben? Wenn ich mich nicht irre, ist heute der 14. Februar 2008, und wir befinden uns mitten im Arbeitskampf. Nun ist gekommen, was kommen musste, und was Sie damals bewusst verschwiegen haben: Sie haben vor drei Jahren alle eigenen Wohltaten bis 2020 garantiert und gleichzeitig unterschrieben, dass die Gegenleistungen der Gewerkschaft nur bis 2008 gelten.

Jetzt kommen die Gewerkschaften gewissermaßen ihrer Aufgabe nach und nutzen die erste Gelegenheit, aus dem Solidarpakt auszubrechen. Mitten in den Sanierungsprozess bei der BVG platzt jetzt der Streik von Verdi. Von einem Unternehmen mit 75 Millionen Euro Jahresverlust wird verlangt, obendrauf circa 50 Millionen Euro zusätzliche Gehaltskosten zu schultern.

Die wissen selbst, dass das eigentlich nicht geht. Bei der BVG ist nichts zu holen. Deshalb ist das, was wie jetzt erleben, faktisch ein Streik für höhere Fahrpreise oder aber für einen höheren Zuschuss aus dem Landeshaushalt.

Über die unsoziale Wirkung von Fahrpreiserhöhungen in der erforderlichen Größenordnung von 10 Prozent brauche ich kein Wort zu verlieren. Vielleicht aber zu Illusionen über die finanzielle Leistungskraft des Staates in Berlin.

Der Aufsichtsratsvorsitzende der BVG, Finanzsenator Sarrazin, hätte vermutlich gut daran getan, den ausgeglichenen Haushalt weniger lautstark zu feiern und stattdessen seines Amtes zu walten und auf die Risiken und Nebenwirkungen hinzuweisen. Das hätte das Missverständnis vermieden, mit dem Landeshaushalt sei alles in Butter!

Solange wir keine nachhaltige Finanzierung der 2,4 Milliarden Euro Zinslast aus regulären Einnahmen erreicht haben, sondern sie wie 2007 zu 2 Milliarden aus dem Solidarpakt Ost und zu 400 Millionen Euro aus dem Verkauf der Landesbank finanzieren, solange taugt der Landeshaushalt nicht als Melkkuh.

Solange herrscht im Berliner Haushalt ein anhaltend brutaler Verdrängungswettbewerb. Da stehen dann die Lohnforderungen der BVG gegen die Lohnforderungen der Beschäftigten der Bezirke und der Hauptverwaltung und die alle zusammen gegen bessere Bildung in Schule und Kita, den Erhalt der Schwimmbäder, die Sanierung der maroden öffentlichen Gebäude, gegen Kultur und Wissenschaft, die Jugendhilfe, Kinderschutz usw. usf.

Eine soziale Politik gerät hier zur hohen Kunst des Regierens, die die verschiedenen Bedürfnisse intelligent und kreativ austarieren muss. Den Beweis, das zu können, ist uns der rot-rote Senat bislang schuldig geblieben.

Ich kann beim Senat keine klare Linie erkennen. Nehmen wir nur die Tarifsituation. Die Beschäftigten im unmittelbaren Landesdienst werden im Unterschied zu denen der BVG unter dem bundesweit üblichen Niveau bezahlt und fragen zu Recht, wie der Anschluss an das bundesweit übliche Gehaltsstandard wieder hergestellt werden kann.

Wollen Sie die Löhne für alle Beschäftigten der BVG erhöhen und gleichzeitig gegenüber den Beschäftigten in der Verwaltung weiterhin erklären: „Basta! Vor 2010 reden wir mit euch über gar nichts?“

Ich glaube, Sie wissen selbst: Das ist zutiefst ungerecht und ein Widerspruch, den Sie nicht durchhalten.

Wir brauchen im öffentlichen Dienst und bei der BVG eine Lösung, die mit gleicher Elle misst. Wir brauchen in beiden Fällen eine allmähliche Aufhebung des Solidarpakts, die das magische Dreieck aus Gehältern im öffentlichen Dienst, Leistungsfähigkeit des Haushalts und Einnahmen aus Fahrpreisen bzw. Steuern so in Einklang bringt, dass es von allen Berlinerinnen und Berlinern als möglichst gerecht und der Zukunft der Stadt dienlich empfunden wird.

Am Konflikt bei der BVG entscheidet sich das Gesamtpaket, entscheidet sich die Leistungsfähigkeit des Staates in Berlin für alle seine Bürgerinnen und Bürger. Diesmal, Herr Wowereit, kommen Sie mit faulen Kompromissen, die schon nach drei Jahren in sich zusammenfallen, nicht mehr durch. Diesmal werden Sie Regierungskunst, klar erkennbare Prinzipien und kreative Lösungen bieten müssen.

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